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Gedenken an das fortwährende Leid der Ezid*Innen in Sengal

CELLE. Zu der Gedenkveranstaltung an den 6. Jahrestag des noch andauernden Feminizid und Genozid an den Ezid*innen im Sengal durch den sog. „IS“ luden mehrere ezidische, aber auch deutsche Verbände und Vereine am Montag, 3. August 2020 im Triftpark in Celle ein. Ab 17.00 Uhr waren ezidische Klänge aus Boxen zu hören. Um 17.29 Uhr gab es eine Gedenkminute, die um 17.30 Uhr vom Glockenläuten der Neuenhäuser Kirche beendet wurde. Auf einer Namenstafel wurden 100 Namen aufgeführt von Ezid*innen, die am 03. August 2014 durch den sogenannten Islamsichen Staat getötet wurden. Die gesammelten Spenden werden an einen Kindergarten in Xanesor (Sengal) gehen, welcher den traumatisierten Kindern eine neue Perspektive und einen neuen Handlungsrahmen bietet.

Gegen 17.45 Uhr begann Heiko Gevers (Bürgermeister und CDU-Fraktionsmitglied) mit der ersten Rede des Abends. Er sei mehrere Male gefragt worden, warum er als Bürgermeister an einer Gedenkfeier der Ezid*innen aus Sengal teilnehme. Zum einen sei ihm die Nachbarschaftspflege sowie Teilnahme an ihrem Leiden wichtig. Er vertrete den Oberbürgermeister Dr. Jörg Nigge, der im Urlaub sei. Zum anderen hätten auch die Deutschen im letzten Jahrhundert Verbrechen gegenüber anderen Völkern begangen, welche zu den Grundsätzen im Artikel 3 unseres Grundgesetzes geführt hätten. So sei es ihm ein Anliegen, dass der Genozid der Ezid*innen nicht aus dem Blickfeld gerät, wie er selber an jenem Morgen hätte erleben müssen. Gerade die Folgen der ungewollten Kinder durch IS-Terroristen, welche von gefangenen Ezid*innen empfangen und geboren wären, sei ungewiss. Eigentlich Muslime (da IS) fühlten sie sich aber eher zu den Eziden (missbrauchten Müttern) hingezogen. Doch Ezide könnten sie nach irakischem Recht und ezidischem Brauch und Religion nicht werden. Als letzten Grund für seine Anteilnahme sei eine Warnung vor der Gefahr des Rassismus. Dieser würde gerade unter der verantwortungslosen Führung in den USA wieder aufbrechen. Seine Bitte an das Publikum: „Bitte helft uns, dass wir diese Entwicklung kritisch betrachten können und diese Gräueltaten vermeiden!“

Diana Gring (Gedenkstätte Bergen-Belsen) beginnt ihre Rede mit einem Zitat des ersten Artikels der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen.“ Dieser Satz bereite ihr Schmerzen, weil wir noch so weit von diesem hehren, schönen Ziel entfernt wären. An einem Tag wie diesem würde ihr dies einmal mehr bewusst. 1948 sei dieses Ziel anlässlich der NS-Massenverbrechen formuliert worden. Die Bedingungen für solche menschenverachtenden Handlungen seien Nationalismus, Fanatismus und Extremismus. Die Entwertung und Erklärung ethnischer und religiöser Minderheiten zu Untermenschen und Ungläubigen führe zu Gewalt und Vernichtungswillen. Im April 1945 hätten britische Truppen das Konzentrationslager in Bergen-Belsen befreit. Vor 75 Jahren seien dort 52000 Frauen, Männer und Kinder ermordet worden: 3 Generationen oder ein Menschenleben sei das nun her. Doch für die Überlebenden fühle es sich an, als wäre dies gestern geschehen. Nicht die Wunde schmerze sondern die Narbe. Am 03. August vor sechs Jahren habe der 74. Völkermord der Ezid*innen begonnen. Nicht mal einen Flügelschlag in der Geschichte sei dies zeitlich entfernt – also wirklich erst gestern. Dabei sei der Genozid noch nicht beendet. Frauen und Kinder würden immer noch in der Versklavung leben, Familien wüssten immer noch nichts über ihre Angehörigen und die existentielle und politische Situation in Sengal sei nach wie vor unsicher und bedrohlich. Diese offene Wunde blutet und es sei noch lange keine Heilung oder Vernarbung in Sicht. Diese Aktionstage und Gedenkveranstaltungen wären notwendig. Denn die internationale Gemeinschaft habe den Blick abgewandt und es sei so wenig über das Schicksal und der Lebensumstände im Flüchtlingslager und im Sengal bekannt. Ebenso sei es wichtig, um die Opfer zu trauern, an die schrecklichen Ereignisse und das fortwährende Leid zu erinnern und zu mahnen, dass das Unrecht nicht vergessen werden würde und keine Wiederholung des Unrechts geduldet werden würde. Sie aber wolle noch mehr: aktuelle Bezüge und politische Forderungen. So fordere sie im Namen der versklavten Frauen und Kinder eine juristische Aufarbeitung mit daraus folgender nationalen und internationalen Strafverfolgung. Für die Opfer von politischem und religiösem Fanatismus erhebe sie ihre Stimme gegen Extremismus, Radikalismus, Rassismus und Antisemitismus. Wie sollen Menschen mit Menschen umgehen, die behaupten, dass Menschen mit ungleicher Würde und Rechte geboren werden und die nicht ausreichend mit Vernunft und Wissen begabt wären? Für die vergewaltigten Frauen fordere sie, dass sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe geächtet und juristisch verfolgt werden solle. Für schwerst traumatisierte Menschen fordere sie psychologische, soziale und finanzielle Unterstützung, damit diese eine Perspektive für ein Leben danach entwickeln könnten. Es wäre schön, wenn aus weiblichen Opfern selbstbestimmte Überlebende werden könnten, die aktiv ihr weiteres Leben gestalten würden und Anteil an gesellschaftliche und politische Prozesse nehmen könnten. In ihrer langjährigen Arbeit mit Holocaust-Opfern habe sie erlebt, dass es ein Weiterleben, manchmal auch nur ein Weiterfunktionieren, geben könne nach einem Völkermord. Obwohl alles um den Menschen herum und im Menschen zerstört und vernichtet worden wäre, würden sie nach mühsamer Arbeit zu einem Leben danach finden. Durch medizinische und psychologische Behandlung würden Trauma und Verfolgung an Körper und Seele beherrschbar werden. Wesentliche Voraussetzungen zur Bewältigung dieser schrecklichen Erlebnisse wären: äußere und innere Sicherheit, Stabilität, eine sichere Existenz und Schaffung von neuen Perspektiven. Doch die aktuelle Lebenssituation der Ezid*innen im Flüchtlingslager und im Sengal seien davon weit entfernt. Es sei furchtbar und unerträglich, was Menschen anderen Menschen antun könnten, sich immer schon angetan hätten und vermutlich auch weiterhin tun würden. Der Mensch neige dazu, weghören, wegschalten oder die Zeitungsseite weiterblättern zu wollen, um diesem Elend zu entfliehen. Aber der Überlebende und die ezidische Gemeinschaft könne dies nicht tun Denn die Bilder wären im Kopf, im Herzen und in der Seele eingebrannt. Deshalb bräuchten geflüchtete und hier als Nachbarn lebende Ezid*innen uns als Anwälte für den berechtigten Ruf nach Gerechtigkeit, als aufnehmende und an ihre Geschichte interessierte Gesellschaft und als Vertreter von politischen und sozialen Interessen für den Wiederaufbau und dem Neubeginn in Sengal. Für Überlebende sei es notwendig und wichtig, uns in gelebter Solidarität zu begegnen. Sie beendet ihre Rede mit einem Zitat von Nadja Murat: „Diese Welt hat nur eine Grenze, sie heißt Menschlichkeit.“

Behiye Uca (Ratsfraktion der Linke / BSG) zitiert aus einem Bericht der internationalen Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates für Syrien, der die Verbrechen des sogenannten Islamischen Staates an die Minderheit der Ezid*innen untersucht hat. Der Bericht würde mit folgendem Zitat eines religiösen Führers beginnen: „Sie kamen, um uns zu zerstören.“ Der Bericht des Deutschlandfunks würde die Verbrechen der Ezid*innen gut aufzeigen: „Männer werden per Kopfschuss exekutiert, Kinder von ihren Müttern getrennt und Frauen sowie Mädchen (das jüngste mit 9 Jahren) auf Märkten verkauft. Familien mussten ansehen, wie ihre Väter erschossen oder enthauptet wurden. Leichen lässt man auf den Straßen liegen. Auch Massentötungen hat es gegeben. IS-Kämfer bezeichnen Ezid*innen als Kaffe, als Ungläubige.“ Eine ezidische Frau berichtet gegenüber der Untersuchungskommission: „Ich wurde in einem Gebäude in Raka drei Wochen lang gefangen gehalten. Die ganze Zeit kamen IS-Kämpfer, um Frauen und Mädchen zu kaufen. Ich wurde 15 Mal verkauft. Ezidische Frauen und Mädchen begannen sich zu verstümmeln, um sich für Käufer unattraktiv zu machen. Andere schnitten sich die Pulsadern auf oder erhängten sich. Sexuelle Übergriffe waren an der Tagesordnung. Mädchen, selbst im Alter von 9 Jahren, wurden vergewaltigt. Die Vergewaltiger drohten den Frauen mit Massenvergewaltigungen, wenn sie sich nicht fügen. Wer flieht, wurde brutal zusammengeschlagen. In einem Fall tötete ein IS-Kämpfer mehrere Kinder einer Mutter, die zu flüchten versuchte.“ Der erste Satz in der Zusammenfassung der Untersuchungskommission laute: „Der IS hat das Verbrechen des Genozids an den Eziden begangen.“ […] Sie appellierte noch einmal an alle Parteien / an die Menschheit: „Wirkt bitte darauf ein, dass auch die Bundesregierung beim Aufbau von Sengal mitwirkt!“ Humanitäre Hilfe sollte Flüchtlingen zu Gute kommen, doch häufig kämen Hilfen dort nicht an. Diese würde dringend gebraucht werden. Denn im Sommer würden die Menschen in den Zelten im Flüchtlingslager ersticken und im Winter würden gerade die Kinder erfrieren, weil sie keine Möglichkeit hätten, sich zu erwärmen. Ihr Appell an die Menschlichkeit: „Setzt euch bitte für die Ezid*innen ein. Wir werden Sengal niemals vergessen! Wir werden jedes Jahr hier stehen und an den Genozid der Ezid_innen gedenken!“

Weitere Redner des Abends waren: Patrick Brammer (SPD), Bernd Zobel (Die Grünen) und Gudrun Jahnke für die MdB Kirsten Lühmann. Ebenso hielten viele Ezid*innen kurdische Reden, die leider nicht übersetzt wurden. Das Theaterstück fiel aus unbekannten Gründen aus. Die musikalische Performance zum Veranstaltungsende hin trieb den Betroffenen die Tränen in die Augen. Als dann „Gemeinsam Kämpfen“ mit ihren deutsch-kurdischen Texten das Stück vom Band begleiteten, wurde auch dem deutschen Bürger das Unrecht klar vor Augen geführt.

Redebeitrag Bernd Zobel (Grüne)

Zum sechsten Jahrestag des Genozids an den Eziden erinnern wir hier an den Überfall des selbsternannten islamischen Staates auf die Region Shingal im Nordirak. Tausende Eziden wurden getötet, Frauen und Kinder verschleppt und versklavt. Noch heute werden mehr als 2000 von ihnen vermisst. Es ist daher heute ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag des Überlebens und der Verantwortung.

2015 gab es weltweiten Protest gegen diese Verbrechen des IS und Hilfe. Hilfsmaßnahmen setzten auch  in Deutschland  ein. So nahm das Land Baden-Württemberg 2015 1000 ezidische Frauen und Kinder auf, unter ihnen Nadia Murad, Friedensnobelpreisträgerin von 2018, auch Niedersachsen  beteiligte sich an diesem Programm. In Celle wurden daher  ebenfalls einige ezidische Frauen betreut. Ein Tropfen Hilfe, nicht mehr und nicht weniger.

Wir schreiben jetzt 2020. Es gibt kaum noch Nachrichten über die Lage im Shingal. Hunderttausende Ezdinnen und Eziden leben immer noch in Lagern, die Bedrohung ist nicht verschwunden und ihre Situation ist immer noch hoffnungslos. Regionalmächte wir die Türkei destabilisieren die Region und verfolgen Eziden und Kurden.

Daher ist richtig, dass der Stadtrat in Celle am 20.11. 2019 in einer Resolution aller Parteien beschlossen hat :„Deshalb erklärt der Rat der Stadt Celle seine Solidarität mit der kurdischen Zivilbevölkerung in ganz Nordsyrien und fordert die Verwaltung auf, über die die Celler Bundestagsabgeordneten die Bundesregierung aufzufordern, vor Ort tätige Hilfsorganisationen zu unterstützen.“ Wichtig ist auch der folgende Satz:  „Den bereits beschlossenen Stopp von Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter, die durch die Türkei im Krisengebiet eingesetzt werden können, begrüßt der Rat der Stadt Celle sehr.“ Wie wir heute dem Nachrichtenmagazin Spiegel entnehmen können, sind leider von Oktober 2019 bis Juli 2020 Rüstungsgüter ich Höhe von rund 26 Mio.€ bewilligt worden. Diese Unterstützung muss ein Ende haben.

Viele Cellerinnen und Celler haben ezidische und kurdische Wurzeln. Daher ist es richtig, hier in den Triftanlagen Solidarität zu zeigen. Celle ist eine offene und solidarische Stadt.  Wir sollten vor Ort den Geflüchteten ein sicherer Hafen sein. Für die Eziden im Irak ist es wichtig, dass die internationale Staatengemeinschaft ihnen Hilfe und Sicherheit beim Aufbau ihrer Heimat gibt. Bagdad und Erbil müssen ihnen garantieren, dass sie in ihrem Land bleiben können, welches sie seit Jahrhunderten bewohnen, und ihnen Autonomie gewähren. Für traumatisierte und bedrohte Ezidinnen und Eziden muss es aber auch wie 2015 möglich sein, über Kontingente  z.B. nach Deutschland einreisen zu können.

Redaktion
Celler Presse
Fotos: Celler-Presse.de

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