In der Celler Stadtkirche St. Marien fand heute ein Gottesdienst zur Erinnerung an die Novemberprogrome 1938 statt. Die Ansprache hielt Pastor i.R. Wilfried Manneke.
Ansprache in der Stadtkirche Celle zum Gedenken an die Novemberpogrome 1938 (9.11.2023)
Liebe Gemeinde,
liebe Schwestern und Brüder,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Heute ist der 9. November. Dieser Tag erinnert uns an den Beginn der Novemberpogrome 1938. In der Nacht vom 9. auf den 10. November brannte es überall in Deutschland: Juden wurden überfallen und misshandelt. Synagogen standen in Flammen. Geschäfte, die Juden gehörten, wurden geplündert und zerstört. Doch weder Polizei noch Feuerwehr griffen ein.
In dieser Nacht vor 85 Jahren wurde für alle Welt sichtbar: Der Antisemitismus in Deutschland hatte einen schrecklichen Höhepunkt erreicht. Historiker sehen heute in den Novemberpogromen von 1938 die Vorstufe zum Holocaust. Die Novemberpogrome kennzeichnen den Übergang von der Diskriminierung deutscher Juden ab 1933 hin zur Vernichtung allen jüdischen Lebens ab 1941.
Auch in Braunschweig wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 die Synagoge schwer beschädigt. Zwei Jahre später haben die Nazis die Synagoge ganz abreißen lassen und dort einen Hochbunker errichtet. Dieser Bunker steht heute noch. Direkt daneben hat die jüdische Gemeinde 2006 eine neue Synagoge gebaut.
Im November vor drei Jahren hatte die Partei „Die Rechte“ in Braunschweig eine Kundgebung angemeldet. Sie sollte vor der Synagoge stattfinden, und zwar von 19.33 Uhr – 19.45 Uhr. Sie können sich vorstellen, was für ein Aufschrei das ausgelöst hat. Direkt vor dem Hochbunker, wo einst die Synagoge stand, die in der Pogromnacht zerstört wurde, und wo heute, gleich nebenan die neue Synagoge steht, sollte von 19.33 – 19.45 eine rechtsextreme Veranstaltung stattfinden.
Unfassbar! Immerhin waren die Novemberpogrome das offizielle Signal zum größten Völkermord in Europa, dem Holocaust. So viel Schamlosigkeit macht sprachlos.
Das „Braunschweiger Bündnis gegen Rechtsextremismus“ hat sofort eine Gegendemonstration angemeldet. Auch wir vom „Netzwerk Südheide gegen Rechtsextremismus“ wollten da ein Zeichen setzen. So sind einige von uns nach Braunschweig gefahren, um an der Gegendemo teilzunehmen. Ich auch.
Erst kurz vor Beginn hat die Stadt Braunschweig den Nazi-Aufmarsch verboten. Vermutlich wäre die Situation auch eskaliert. Immerhin waren wir über 800. Gemeinsam konnten wir der Jüdischen Gemeinde in Braunschweig ein überwältigendes Zeichen der Solidarität überbringen.
Liebe Gemeinde!
Antisemitismus ist für Rechtsextreme ein wesentlicher Bestandteil ihres Weltbildes. „Aufruf zum Rassenhass“ ist zwar seit 1949 eine Straftat. Das hält Rechtsextreme jedoch nicht davon ab, ihr Weltbild weiter zu pflegen. Judenfeindlichkeit ist bei ihnen Grundkonsens und eine Art „Ehrensache“. Darüber wird intern noch nicht einmal diskutiert, so selbstverständlich ist der Antisemitismus ein Teil ihrer Überzeugung.
Heute leben ungefähr 200.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland. 95.000 von ihnen gehören einer jüdischen Gemeinde an. Die meisten sind in den neunziger Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert. Hinzu kommen etwa 13.000 Israelis, die dauerhaft in Deutschland leben.
Bespuckt, beschimpft und verletzt. Die Angriffe auf jüdische Mitbürger haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Viele Juden meinen, dass der Antisemitismus heute vornehmlich von Muslimen ausgeht. Aktuelle Statistiken geben da aber eine andere Antwort. Laut Verfassungsschutz sind im vergangenen Jahr 84% der antisemitischen Straftaten von Rechtsextremen verübt worden.
Wir sind entsetzt darüber, dass Antisemitismus in Deutschland wieder deutlich zunimmt. Das fordert uns Christen in besonderer Weise heraus:
Gott hat das Volk Israel erwählt und sich ihm offenbart. So beschreibt die hebräische Bibel die Position der Juden. Sie spielen in der Bibel eine besondere Rolle. Sie sind von Gott auserwählt worden.
Im Neuen Testament wird beschrieben, dass Gott diesen Bund später für alle Menschen geöffnet hat. Seitdem sind wir Christen ebenfalls Teil dieses Bundes.
Die ursprüngliche Rolle der Jüdinnen und Juden bleibt aber bestehen. Deshalb achten wir sie auch in besonderer Weise. Immerhin war Jesus selber Jude. Auch die erste christliche Gemeinde setzte sich aus Juden zusammen. Schon allein deshalb lehnen wir jede Form von Antisemitismus ab.
Leider hat sich die Kirche in der Vergangenheit nicht so positiv den Juden gegenüber verhalten wie heute. In früheren Jahrhunderten hat sie den Hass gegen Juden sogar geschürt. Juden wurden zwangsgetauft. Juden wurden in Ghettos untergebracht. Juden wurden kriminalisiert und sogar dämonisiert. Es kam zu Pogromen an Juden, besonders häufig während der Kreuzzüge im 12. und 13. Jahrhundert.
Auch Martin Luther muss der Vorwurf gemacht werden, dass er die Stimmung gegen Juden angeheizt hat. Drei Jahre vor seinem Tod veröffentlichte er die Schrift: Von den Juden und ihren Lügen (1543). In dieser Schrift riet er den Fürsten, Synagogen und jüdische Wohnungen zu zerstören. Internierung, Zwangsarbeit und Vertreibung der Juden forderte er ebenfalls.
Das hat einen Theologieprofessor veranlasst zu sagen: „Schade, dass Luther nicht früher verstorben ist.“ (Luther verstorben 1546)
Die schlimmste Zeit erlebten die Juden aber in den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur. Sechs Millionen Juden wurden umgebracht. Dieser millionenfache Mord im Dritten Reich ist das schlimmste Kapitel der Judenverfolgung. Besonders in dieser Zeit hat
die Kirche den Juden nicht oder zu wenig zur Seite gestanden. Das bedauern wir. Das nimmt uns heute sogar erst recht in Verantwortung, gegen jede Form von Antisemitismus vorzugehen.
Der Schock nach dem Terroranschlag in Halle sitzt immer noch tief. Am 9. Oktober 2019 hat der Rechtsextremist Stefan B. versucht, schwer bewaffnet in die Synagoge der Stadt einzudringen. Als sein Plan misslang, erschoss er auf der Straße eine 40 Jahre alte Frau und kurz darauf einen 20-Jährigen in einem Imbiss. Zwei weitere Menschen wurden schwer verletzt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Tür der Synagoge in Halle dem Angriff nicht standgehalten hätte. Es stand noch ja nicht `mal ein Polizist vor der Tür. Es hätte vermutlich Dutzenden das Leben gekostet. Für Deutschland wäre es eine Katastrophe gewesen, wenn nach dem Holocaust jetzt erneut ein Massenmord an Juden in unserem Land stattgefunden hätte. Unvorstellbar!
In Israel hat am 7. Oktober ein Massenmord stattgefunden. Mindestens 1400 Menschen sind umgebracht worden. Es war der tödlichste Angriff auf Juden seit dem Holocaust. Wie Diebe in der Nacht kamen die Hamas-Terroristen und haben auf schlafende Kinder, wehrlose Greise, Frauen und Männer geschossen. Auch auf tanzende und feiernde Jugendliche. Sie haben sie getötet oder als Geiseln verschleppt. Mindestens 240 Menschen sind in den Gazastreifen entführt worden.
Als nach und nach das Ausmaß des Angriffs sichtbar wurde, hat mich eine Erschütterung erfasst, die bis heute anhält. Ich habe mir Gräueltaten in diesem Ausmaß nicht vorstellen können.
Schon am gleichen Abend wurden in vielen Städten der Welt die Hamas-Terroristen bejubelt. Auch in Berlin. Eingehüllt in palästinensische Flaggen feierten in Deutschland lebende Palästinenser den Angriff der Hamas auf Israel. Sie verteilten vor Freude sogar Baklava an Passanten. Das ist ein süßes Gebäck. Es wird verteilt Baklava, wenn der Widerstand Fortschritte macht.
Auf pro-palästinensischen Kundgebungen kommt es in den letzten Wochen immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. Der versuchte Brandanschlag auf eine jüdische Gemeinde in Berlin ist kein Einzelfall. Seit dem blutigen Angriff der Hamas auf Israel hat das Bundeskriminalamt mindestens 2000 Straftaten im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt gezählt. Diese Zahl wurde vorgestern vom Antisemitismus Beauftragten der Bundesregierung bekanntgegeben.
Nach Ansicht des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, ist das jüdische Leben seit dem Terrorangriff der Hamas massiv bedroht. Die Angst unter Jüdinnen und Juden in Deutschland sei tief verankert in den historischen Pogromerfahrungen, sagte er. Immerhin seien in Deutschland breite Gruppen für Judenhass und Israelfeindlichkeit empfänglich, und das sei es, was ihm große Sorgen bereite. Der Antisemitismus sei bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.
Ähnlich äußert sich auch der Präsident des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Michael Fürst. Die Entwicklung sei „hochbedenklich“, mahnt er. Viele jüdische Gemeindemitglieder trauten sich zur Zeit nicht, sich als Juden in der Öffentlichkeit erkennen zu geben. Sie hätten Angst vor Gewalttaten. „Das ist eine Angst, die wir vorher nicht gekannt haben, beinahe schon Panik“, sagt Michael Fürst. Manche Familien mit jüdisch klingenden Namen treten inzwischen sogar von geplanten Urlaubsreisen in die Türkei zurück.
Liebe Gemeinde,
das ist eine Entwicklung, die höchst alarmierend ist. Hier sind nicht nur Polizei und Politik gefordert, sondern auch die Zivilgesellschaft. Es ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, wenn Jüdinnen und Juden Angst haben müssen, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen, in die Synagoge zu gehen oder eine Israelfahne vom Balkon zu hängen.
Solidarität mit den in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden ist das Gebot der Stunde. Es ist der erste wichtige Schritt. Darauf müssen aber Taten folgen in der Politik und in der Zivilgesellschaft, die die Religionsgemeinschaften miteinschließt.
„Nächstenliebe verlangt Klarheit!“ Unter diesem Motto wendet sich die Evangelische Kirche gegen „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“.
„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ist ein Sammelbegriff. Er beinhaltet Elemente wie Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten, Islamfeindlichkeit …
Nächstenliebe verlangt Klarheit. Nächstenliebe verlangt, dass wir klar hinsehen, klar reden und klar handeln. Wir können uns nicht vornehm heraushalten, wo wir antisemitische oder ausländerfeindliche Meinungen hören. Wir müssen Stellung beziehen. Wenn Juden angegriffen werden, wenn Ausländer diffamiert oder Geflüchtete verfolgt werden, dann müssen wir reagieren. Wir müssen helfend eingreifen. „Helfend eingreifen“ bedeutet nicht unbedingt, dass wir uns dabei in Gefahr begeben. „Helfend eingreifen“ beinhaltet aber wenigstens, die Polizei zu verständigen. „Helfend eingreifen“ beinhaltet auch, den Opfern deutlich zu zeigen, dass sie nicht alleinstehen. Ihnen gelten unsere Sympathie und Hilfe.
Bis heute erinnert uns der 9. November daran, wachsam zu bleiben, damit Antisemitismus, Intoleranz, Hass und Gewalt keine Chance haben, wieder aufzuflammen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist vermutlich der bekannteste Satz des Grundgesetzes. Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist aber nicht allein die Aufgabe des Staates. Es ist auch unsere Aufgabe.
Evangelische Christen stünden für eine „doppelte Solidarität“ mit den Menschen in Israel und Palästina, sagt Heike Springhart, Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Baden. Zitat: „Wir stehen ohne Wenn und Aber an der Seite unserer jüdischen Geschwister. Und wir beten für ein Leben in Frieden und Freiheit auch für die Menschen in Palästina.“
Was die badische Landesbischöfin hier ausspricht, wird von vielen in der Evangelischen Kirche geteilt. Dabei muss aber deutlich betont werden, dass der abscheuliche Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel durch nichts zu rechtfertigen ist. Doppelte Solidarität bedeutet jedoch nicht nur, das unglaubliche Leid der angegriffenen Israelis zu sehen, sondern auch die schwierige humanitäre Lage der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen. Die Lage der in Gaza festsitzenden Zivilbevölkerung ist katastrophal. Es steht außer Frage, dass die Menschen vor Ort schnellstmöglich Hilfe benötigen. Die Kirchen setzen sich eben für alle Opfer von Gewalt ein.
Der Krieg, der am 7. Oktober begonnen hat, ist kein Krieg zwischen Israel und Palästina, sondern ein Krieg zwischen Israel und der Hamas.
Es war ein antisemitischer Pogrom, der am 7. Oktober den Freudentag „Simchat Tora“ in einen Trauertag verkehrt hat. Wer mordend Häuser überfällt und die Menschen, die darin leben, schändet, abschlachtet oder verschleppt, der ist kein Gotteskrieger, kein Widerstandskämpfer, kein Märtyrer. Er ist ein Massenmörder.
Wer junge Menschen, die singen und tanzen, foltert, vergewaltigt, niedermetzelt, hat keine religiöse oder politische Rechtfertigung verdient, sondern Verurteilung und Strafe. Die Täter der Hamas sind keine Volksbefreier, sie sind Geiselnehmer. Sie halten über 240 gekidnappte Jüdinnen und Juden in Folterhaft. Aber auch die palästinensische Bevölkerung von Gaza wird von der Hamas als Geisel gefangen gehalten.
Die Hamas nutzt unschuldige Zivilisten auf perfide Weise als menschliche Schutzschilde für ihre Einrichtungen. Deshalb lautet unsere Forderung: Die Zivilbevölkerung in Gaza, die zivile Infrastruktur, wie Krankenhäuser, Wohnanlagen und Schulen, müssen beim Kampf Israels gegen die Hamas maximal geschützt werden.
Worauf es jetzt aber auch ankommt, ist, alles, aber auch alles Menschenmögliche zu tun, damit die in den Tunneln der Hamas gefangenen Geiseln zu ihren Familien zurückkehren können.
Schluss:
Viele Jahrhunderte war das Verhältnis von Christen und Juden von Fremdheit und gegenseitiger Ablehnung bestimmt. Dabei haben beide nicht nur einander geschadet, sondern auch selbst Schaden genommen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Kirchen in Deutschland angefangen, ihre Beziehungen zum Judentum neu zu überdenken. So ist schon 1948 die „Gesellschaft
für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ entstanden. Auch hier in Celle gibt es eine Gruppe.
Vor 41 Jahren ist der Verein „Begegnung Christen und Juden in Niedersachsen“ gegründet worden.
Inzwischen gibt es weitere Initiativen, die sich engagiert und tatkräftig für Verständigung, gegenseitige Achtung und Zusammenarbeit zwischen Juden und Christen einsetzen. Bei uns in Hermannsburg z.B. gibt es den Arbeitskreis „Christen und Juden“. Dort arbeite ich mit.
Hinweisen möchte ich auch auf das Celler Netzwerk gegen Antisemitismus und auf die Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen.
All die genannten Gruppen wenden sich entschieden gegen jede Form von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung aus religiösen, weltanschaulichen, politischen, sozialen oder ethnischen Gründen.
Anstoß zu den Gründungen dieser Initiativen war die geschichtliche Erfahrung, wohin Verblendung, Gleichgültigkeit, Rassenwahn und Hass führen können. Diese geschichtliche Erfahrung lehrt aber auch Mut, Zivilcourage Toleranz und gegenseitiges Verständnis. Unser gemeinsames Ziel ist es, dass Menschen und Völker in gegenseitiger Achtung und Wertschätzung sich begegnen, in einer Gesellschaft, die sich zu Toleranz, Freiheit und Demokratie verpflichtet fühlt.
Amen.
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