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Taiwan – Einblicke in ein bedrohtes Land von Dr. Jörg Rodenwaldt

  • Celle

Es war in der jüngsten Vergangenheit immer ein Thema. Seit durch den Überfall Russlands auf die Ukraine jedoch ein Krieg in unserer Nachbarschaft stattfindet, ist die Bedrohung Taiwans durch China noch stärker in unser Bewusstsein gerückt. Wenn wir hierzulande etwas über Taiwan hören, dann vorwiegend in diesem Kontext.

Doch was für ein Land ist Taiwan überhaupt, wo liegen die Wurzeln des Konflikts, wie sieht das Alltagsleben auf dem Inselstaat aus? Antworten auf diese und weitere Fragen kann ein Celler geben, der sich bereits seit Ende der 1970er Jahre mit der Thematik beschäftigt und häufig, zuletzt im Mai dieses Jahres, in Taiwan zu Gast war. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über Taiwan. Der Celler Presse gab der Kommunalpolitiker und frühere Banker Dr. Jörg Rodenwaldt ein Interview:

CP: Herr Rodenwaldt, worauf basieren Ihre Kenntnisse über Taiwan?

Meine Beschäftigung mit Taiwan begann während meines Studiums der Volkswirtschaft Ende der 1970er Jahre, als ich mich mit Fragen aufholender wirtschaftlicher Entwicklung beschäftigte. Taiwan erschien mir besser als die meisten anderen Staaten geeignet, die Möglichkeiten wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklungen zu untersuchen. 1979 besuchte ich das erste Mal Taiwan. In den 1980er Jahren analysierte ich in meiner Diplomarbeit „Die evolutionär-assoziative Entwicklung Taiwans“ die Frage nach Taiwans Gegenwart und mögliche Zukunft.

Über die Jahre führten mich immer wieder berufliche und private Reisen dorthin, die mir ermöglichten, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes eng zu verfolgen.

CP: Wie ist zurzeit die Stimmung dort? Wirkt die Bedrohung durch China in den Alltag hinein?

Die Menschen in Taiwan sind sich der militärischen Bedrohung durch China bewusst, lassen sich aber nicht von Angst lähmen. Sie genießen ihr Leben, ihre Freiheit und ihren Humor, was jeder Besucher alltäglich selber erleben und erfahren kann auf den Märkten, in den Geschäften und auf öffentlichen Plätzen. Die meisten Menschen identifizieren sich als Taiwaner und nicht als Chinesen und sind stolz auf ihre kulturelle Vielfalt und ihre demokratischen Werte.

CP: Worin liegen die Wurzeln des Konflikts?

Um die Ursache dieser Spannungen zu verstehen, muss man in der Tat einen Blick auf die Geschichte werfen. Taiwan war lange Zeit von indigenen Völkern bewohnt. Die Portugiesen, Niederländer und Spanier etablierten im 16. und 17. Jahrhundert Stützpunkte, bevor das Land 1684 Teil des chinesischen Kaiserreichs wurde. Im Jahr 1895 trat dieses Taiwan an Japan als Konsequenz des verlorenen Ersten Sino-Japanischen Krieges ab. Die Insel blieb 50 Jahre lang bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine japanische Kolonie. 1945, nach der alliierten Niederlage Japans, übernahm völkerrechtlich die Republik China, die von der Kuomintang (KMT) geführt wurde, die Kontrolle über Taiwan.

In einem blutigen Bürgerkrieg verlor die Nationalregierung unter der Führung von Chiang Kai-shek gegen Mao Zedongs Kommunisten. Am 1.10.1949 wurde in Peking die Volksrepublik China ausgerufen. Die nationalchinesische Regierung zog sich nach Taiwan zurück in der Hoffnung, von dort aus das Festland zurückerobern zu können. Sowohl die Kommunisten als auch die Nationalisten erklärten sich zur alleinigen rechtmäßigen Regierung des gesamten chinesischen Territoriums. Seitdem befinden sich die Volksrepublik China und die Republik China, Nationalchina oder auch Taiwan in einem Zustand der Feindseligkeit und Rivalität, der manchmal zu militärischen Konfrontationen führte.

CP: Wie entwickelte sich die taiwanesische Gesellschaft?

Mit der Aufhebung des Kriegsrechts begann Ende der 1980er Jahre in Taiwan ein Prozess der Demokratisierung und Liberalisierung, der seine Identität und seine Beziehungen zu China veränderte. Viele Taiwaner begannen sich als eigenständige Nation zu sehen, die nicht mit dem Festland vereinigt werden wollte. Dies stößt auf den Widerstand Chinas, das jede Form von formeller Unabhängigkeit Taiwans ablehnt. In den 2000er Jahren schienen sich die Beziehungen zu verbessern, als die beiden Seiten ihre wirtschaftlichen, kulturellen und sogar politischen Verbindungen vertieften. Aber heute sind die Beziehungen auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten, was Ängste vor einer militärischen Eskalation schürt. In der Bevölkerung gibt es unterschiedliche Meinungen über die Zukunft Taiwans. Einige, vorwiegend Jüngere, befürworten eine formelle Unabhängigkeitserklärung oder den Status quo, andere, und dieses sind besonders ältere Festlandchinesen auf Taiwan, eine engere Anbindung an China oder sogar eine Wiedervereinigung, falls sich das System in der Volksrepublik ändern sollte.

CP: Wie beschreiben Sie die taiwanesische Wirtschaft? Ist das Land komplett durchdigitalisiert oder hat sich ein Rest Analoges gehalten?

Taiwan hat eine robuste und diversifizierte Wirtschaft, die auf Hoch-Technologie, Elektronik, Halbleitern und anderen Schlüsselindustrien basiert. Dies hat dem Land wirtschaftliche Stabilität und Resilienz verliehen, aber seine Verhandlungsposition wie den Beitritt zu internationalen Organisationen und Anerkennung nur bedingt gestärkt. Die wirtschaftliche Stärke spielt eine wichtige Rolle im Umgang mit der Gefahr einer möglichen chinesischen Aggression.

Das Land ist relativ stark digitalisiert. Jedoch finden sich in vielen Bereichen – wie im alltäglichen Leben, in der Kultur und Religion – auch unverändert analoge Gepflogenheiten, Bargeldzahlungen sind möglich.

CP: Wie ist das Straßenbild, sehr geschäftig, hektisch?

Besonders die Metropolregion Taipei vermittelt ein sehr beschäftigtes und hektisches Leben. In der Region lebt fast ein Drittel der Bevölkerung. Es ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes. Eigentlich könnte man die angrenzende Millionenstadt Taoyuan hinzunehmen und kommt dann auf annähernd zehn Millionen Einwohner.

CP: Gibt es auch Ausländer, also Communities, Menschen, die dorthin eingewandert sind?

Weit über neunzig Prozent der 24 Millionen Einwohner sind ethnische Han-Chinesen, die man wiederum weiter unterteilen kann in sogenannte Festlandchinesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg übergesiedelt sind, und Chinesen, die schon vor Hunderten von Jahren eingewandert sind und sich assimiliert haben. Der Anteil der indigenen Ethnien beträgt nur wenige Prozent. Ansonsten sind kaum Menschen aus anderen Ländern eingewandert. Natürlich gibt es viele ausländische Fach- und Hilftskräfte.

CP: Ist die Gesellschaft offen? Wird man als Mensch aus dem Westen zurückhaltend empfangen oder ist man willkommen?

Ja, es ist eine offene Gesellschaft, in der Menschen aus dem Westen freundlich empfangen werden.

CP: Wie steht es um den Wohlstand, ist er gleichmäßig verteilt? Profitieren alle von der wirtschaftlichen Prosperität? Sieht man auf der Straße Armut?

Vor Jahrzehnten war der Wohlstand gleichmäßiger verteilt, haben mehr Menschen vom wirtschaftlichen Aufschwung ähnlich positiv profitiert. Taiwan zeichnete sich früher stärker als ein Wachstumsland mit relativ gerechter, homogener Wohlstandsverteilung aus. Ungeachtet dessen ist Taiwan heute trotz der zugenommenen Disparitäten noch immer ein Land mit gleichmäßigerer Verteilung des Vermögens als in vielen anderen Ländern und ähnelt momentan eher einem Land wie Deutschland. Armut ist existent, aber weniger sichtbar als bei uns.

CP: Wie lautet Ihre Zukunftsprognose in politischer Hinsicht?

Die Zukunft der Beziehungen zwischen Taiwan und China hängt von vielen Faktoren ab, darunter die innenpolitischen Entwicklungen in beiden Ländern, die Rolle der USA und anderer internationaler Akteure, der internationale Druck, der politische Wille sowie die öffentliche Meinung auf beiden Seiten der Straße von Taiwan. 

Eine militärische Konfrontation zwischen China und Taiwan wäre jedoch nicht nur für beide Seiten sehr kostspielig und riskant, sondern würde auch die internationale Gemeinschaft involvieren. Viele Länder haben ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo in der Taiwanstraße. Die USA haben deutlich gemacht, dass sie jede Aggression Chinas gegen Taiwan ablehnen, andere Länder wie Japan, Australien und Großbritannien haben ihre Solidarität mit Taiwan bekundet. Anders als beim Angriff Russlands auf die Ukraine dürfte es schwieriger sein, den Konflikt regional einzugrenzen. Denn die Chinesen könnten möglicherweise nicht umhin, territoriale Grenzen von Anrainerstaaten zu verletzen oder sogar amerikanische Basen auf deren Gebiet direkt zu attackieren.

Daher ist es meines Erachtens unwahrscheinlich, dass China in nächster Zeit einen direkten Angriff auf Taiwan starten würde, es sei denn, es sieht keine andere Wahl mehr. Stattdessen könnte China versuchen, Taiwan durch wirtschaftlichen Druck, diplomatische Isolation oder Cyberangriffe zu schwächen oder zu destabilisieren. Taiwan könnte seinerseits versuchen, seine Beziehungen zu anderen Ländern zu verbessern, seine Demokratie zu stärken und seine Widerstandsfähigkeit zu erhöhen.

Eine friedliche Lösung wäre für alle Beteiligten am besten, aber sie erfordert auch Dialog, Respekt und Kompromissbereitschaft.

CP: Herr Dr. Rodenwaldt, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Interview: Anke Schlicht
Celler Presse

Fotos: privat

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