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Autorenlesung mit Tilman Röhrig

  • Celle

CELLE. Bereits zum 14. Mal fand in diesem Jahr die Celler Jugendbuchwoche statt. Von Beginn an dabei ist der in der Nähe von Köln beheimatete freischaffende Autor Tilman Röhrig. Doch dass es auch nach 28 Jahren regelmäßiger Lesungen in Celle nicht langweilig werden muss, beweist der 73-jährige sehr eindrucksvoll mit einer gleich doppelten Premiere, denn zum ersten Mal in seiner Laufbahn liest er aus einem noch unfertigen Roman.

Passend zum gegenwärtigen Marx-Jahr und in Vorausschau auf das Engels-Jahr 2020 entführt er die Anwesenden ins Jahr 1845, eben in die Welt von Karl Marx und Friedrich Engels. Um die Phantasiereise dorthin zu erleichtern, beginnt die Erzählreise an diesem Abend am Celler Bahnhof, der seit dem 10. Oktober 1845 in Betrieb ist, und führt über Hannover, Köln und Aachen schließlich nach Brüssel, später nach Paris.

Es folgt ein erster Einblick in den entstehenden Text. Wir begleiten zunächst Helene, ein Hausmädchen, das von Jenny Marx‘ Mutter zur Unterstützung der jungen Familie Marx nach Brüssel entsendet wurde. Dabei gestaltet der Autor bereits für seine neben Marx wichtigste männliche Hauptfigur Engels eine leicht frivole, jedoch zum Schmunzeln anregende Episode des gegenseitigen Kennenlernens. Noch angetrunken vom Vorabend sitzt Engels bei Helenes Ankunft im Sessel neben dem Laufstall, in dem Marx‘ kleine Tochter mit vollen Windeln spielt, um nun der entsetzten Helene mit Wort und Tat zu nahe zu treten.

Jedoch ist es dann nicht Helene, die, wie der Anfang vermuten ließe, Engels als weibliche Hauptfigur zur Seite gestellt wird, sondern die aus einer armen schottischen Arbeiterfamilie stammende Mary. Mit ihr gestaltet Röhrig eine für sein Schaffen typische Frauenfigur. Der Autor selbst betont stets, sich bei jedem neuen Roman in seine weibliche Hauptfigur zu verlieben und beim Zuhören wird schnell deutlich, dass auch Mary hier keine Ausnahme bildet. Wir begleiten sie zum Schiff, das sie wegen seiner kritischen finanziellen Lage von ihrem geliebten Friedrich weg, zurück nach England, bringen soll, während er in Paris zurück bleibt. Fast meint man selbst dort zu sitzen und die Tränen des Abschieds vor dem Geliebten zurückhalten zu müssen, so sehr nimmt Röhrig uns mit in die Gefühlswelt seiner Mary. Nach dem emotionalen Abschied der beiden endet dieser Textauszug und schon jetzt ist der Punkt erreicht, an dem man als Zuhörer dem Autor am liebsten das Manuskript aus den Händen reißen und selbst weiterlesen möchte, nur um zu erfahren, wie es mit Mary weitergeht und ob und wann sie ihren Friedrich wiedersehen wird. Glücklicherweise erbarmt sich Röhrig seiner Zuhörer und gesteht mit einem milden Lächeln, dass es selbstverständlich ein Wiedersehen der beiden geben wird. Und wie um die Trauer des Abschieds nicht länger auszudehnen, brechen wir mit Engels und einem befreundeten Arzt zu einem Besuch bei dem ebenfalls im Pariser Exil lebenden deutschen Dichter Heinrich Heine in die Rue du Faubourg Poissonière auf. Sehr fein wird die Gebrechlichkeit Heines dargestellt, besonders im Gegensatz zur leicht rustikalen Art seiner Ehefrau, und doch bleibt durch einige komische Elemente, wie beispielsweise frisch gelieferte veilchenblaue Seidenkondome auf dem Wohnzimmertisch, das ironische, schalkhafte, ja teils flegelhafte an Heines Humor sichtbar. Auch die sieben im Haushalt lebenden Papageien seiner Mathilde, alle mit Namen ägyptischer Herrscher, lassen den Text witzig und lebendig werden. Spätestens nach dem vierten oder fünften „Bonjour, entrez!“ gönnt der Zuhörer dem Papageien das nasse Tuch, welches ihn von seiner Stange wirft.

Es sind gerade die kleinen belegbaren Elemente aus dem Privatleben der historischen Persönlichkeiten, die Röhrigs Romane so besonders machen und zeigen, dass dem tatsächlichen Verfassen eines Romans eine enorm umfangreiche Recherche vorausgegangen ist.

Zum Ende der ersten Hälfte der Lesung kündigt der Autor an, dass der Roman bis Januar 2019 fertiggestellt werden soll, um dann zur Frankfurter Buchmesse im Oktober zu erscheinen. Ein bisschen müssen wir uns also noch gedulden, ehe wir mehr von Marx, Engels und Mary erfahren.

Der zweite Teil der Lesung beschäftigt sich mit dem im vergangenen Jahr erschienen Jubiläumsband des Romans In dreihundert Jahren vielleicht. 1984 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, ist das Buch noch immer aktuell und erfreut sich dauerhaft einer regen Leserschaft. Es spielt 1641 in dem fiktiven Dorf Eggebusch und zeigt eindrucksvoll anhand weniger Tage die Schrecken des 30-jährigen Krieges. In der Erzählung ist die alte Großmutter die einzige, die sich noch an den Frieden erinnern kann, für alle anderen ist Frieden nur ein Wort. Für Röhrig selbst bedeutet dieser Text die Suche danach, „was uns Menschen bleibt, wenn wir aufgegeben sind“, es ist also ein Text von Hoffnung und so steht auch am Ende des Romans und auch nach dem Verlust von beinahe allem noch Hoffnung, nämlich eine, die sich daraus nährt, immerhin nicht alleine zu sein. Damit ist das Ende zugleich ein neuer Anfang.

Dr. Nathalie Groß
Fotos: Sabine Richter

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