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„Die Triage ist in der Psychotherapie längst Realität“

  • Celle

CELLE. Gespräch mit Dr. Christian Rebert über seine Aufgaben als neuer Diakoniepastor im Ev.-luth. Kirchenkreis Celle – die kulturelle Vielfalt der Kirche und warum es in der diakonischen Arbeit manchmal um Leben und Tod geht.

Dr. Christian Rebert, welche Rolle übernimmt die Diakonie innerhalb der Ev.-luth. Kirche?

Die Diakonie ist seit jeher eine zentrale Aufgabe des kirchlichen Lebens. Schon in der Apostelgeschichte können wir davon lesen, dass die christliche Urgemeinde nicht nur Prediger hatte, sondern auch Diakone einsetzte, die sich um die oft ganz handfesten Bedürfnisse der Gemeindeglieder kümmerten. Mittlerweile werden viele diakonische Aufgaben, wie die Armenfürsorge oder die Krankenpflege, vom Staat und auch anderen Trägern geleistet. Das ändert allerdings nichts daran, dass es auch weiterhin ein christliches Anliegen ist, in diesen Bereichen zu wirken. Eine Besonderheit ist, dass christliche Hilfe immer von dem Bewusstsein begleitet wird, selbst aus der Gnade Gottes zu leben, das heißt, selbst Hilfe zu brauchen. Das bringt Helfer*in und Hilfesuchende*n auf Augenhöhe.

Wie definieren Sie Ihre Funktion als Diakoniepastor?

Die diakonische Arbeit ist so vielfältig und die Angebote zum Teil so spezifisch, dass es ohne ein modernes Jobsharing gar nicht geht. Meine Aufgabe sehe ich darin, bei der Schaffung von Verbindungen mitzuwirken: Verbindungen zwischen den Kirchengemeinden und den Institutionen des Diakonischen Werks mit ihren Beratungs- und Dienstleistungsangeboten, aber besonders auch Verbindungen zwischen den diakonischen Mitarbeitern und ihrer Kirche. Hier möchte ich Schärfungen des Bewusstseins befördern. Wer diakonisch arbeitet, verkündet ja damit auch das Evangelium – und zwar in einer unmittelbar spürbaren Weise.

Worin zeigt sich das konkret?

Ich gebe dazu mal Beispiele. Jesus hat die Versöhnung gepredigt: Im Evangelischen Beratungszentrum werden Familien ganz konkret darin unterstützt, versöhnter miteinander leben zu können. Christ zu sein, bedeutet für mich, innerlich frei zu werden: Die Mitarbeiter*innen der Psychosozialen Beratungsstelle helfen Menschen, die durch psychische Belastungen gebunden und in Süchten gefangen sind, diese Freiheit neu zu erlangen. Als Christ bin ich von der Würde jedes Menschen überzeugt. Dass diese auch wirklich erfahrbar wird, dazu hilft etwa die Arbeitslosenberatungsstelle: Arbeitslosen, deren Selbstwertgefühl oft angegriffen ist, werden dort unterstützt, dieses wieder aufzubauen.

Wie würden Sie den Ist-Zustand der Diakonie im Landkreis Celle beschreiben?

Ich bin ja erst seit wenigen Monaten im Pfarramt und auch in meiner neuen Funktion als Diakoniepastor – aber, was ich schon mitbekommen habe, beeindruckt mich sehr. Die Diakonie in Celle ist bemerkenswert breit aufgestellt. Die Mitarbeiter*innen erlebe ich als sehr kompetent, kreativ und motiviert. Der hohe Einsatz, mit dem sie ans Werk gehen, bringt sie allerdings nun an die Belastungsgrenze. Die Wucht der Corona-Krise versuchen sie nach Kräften abzufedern. Der Lockdown hat dazu geführt, dass viele Menschen psychische Probleme bekommen haben und bekommen bzw. sich die Situationen bei denen, die bereits erkrankt waren, verschlimmert hat. Drogenabhängige, die schon auf einem guten Weg in der Substitution waren, sind rückfällig geworden, weil ihre Minijobs gekündigt wurden, die Tagesstruktur zusammenfiel und Perspektiven fehlen. Auch sehr junge Menschen greifen zunehmend zu harten Drogen oder zeigen Depressionssymptome, was uns mit großer Sorge erfüllt.

Lässt sich dieser Anstieg auch in den Zahlen wiedererkennen?

Ein Beispiel aus der Psychosozialen Beratung: 2019 hat diese Einrichtung insgesamt 871 Erstkontakte im Zusammenhang mit Süchten verzeichnet, 2020 waren es 1055, also 184 Erstkontakte mehr. Tendenz in diesem Jahr weiter steigend, denn die meisten melden sich leider erst dann, wenn sich Psychosen ausbilden, die Begleiterscheinungen der Sucht also unerträglich werden.

Wie gehen die Mitarbeiter*innen innerhalb der Einrichtungen mit der Gesamtsituation um?

In vielen Bereichen arbeiten sie echt am Limit. Hinzu kommt, dass die Hygienebedingen die Arbeit enorm verkompliziert haben. So mussten Gruppenangebote in Einzelangebote umgewandelt werden, was zeitökonomisch äußerst schwierig ist. Die Beratungsstellen verstehen sich als erste Hilfe bei seelischen Nöten. Hier lange Wartelisten zu führen, kann sehr gefährlich sein. Deshalb versuchen die Mitarbeiter jedem so schnell wie möglich einen Termin zu geben. Zum Teil geht es wirklich um Leben und Tod, wenn Menschen jegliche Perspektive für ihr Leben verloren haben. Die Triage ist das Horrorszenario der Medizin – in der Psychotherapie ist sie längst Realität. Ich möchte mir wirklich nicht ausmalen, wie es in unserem Landkreis aussähe, wenn unsere diakonischen Beratungseinrichtungen nicht wären.

Wie wollen Sie sich ganz konkret in Ihrer Zusammenarbeit mit den Einrichtungen einbringen?

Wer im sozialen Bereich arbeitet, bringt oft eine riesige Portion Menschenliebe mit. Die braucht es auch, denn nicht jeder, der Hilfe in Anspruch nimmt, zeigt sich auch dankbar. Ein diakonischer Kernsatz sagt: „Niemanden aufgeben“. Ich möchte die Mitarbeiter*innen gerne darin unterstützen, ihre Arbeit so tun zu können, wie sie es sich vorgestellt haben, als sie ihren Beruf ergriffen haben. Dazu gibt hier ja auch bereits tolle Projekte im Kirchenkreis, wie die „ZuGabe“ der Diakonie Südheide, die den Pfleger*innen mehr Zeit gibt für die Menschen. Ich möchte gern Angebote organisieren, in denen die Mitarbeiter ihre Ressourcen erkunden können – eine wichtige Ressource kann auch die Religion sein. Außerdem möchte ich gerne daran mitwirken, in der Öffentlichkeit das Bewusstsein zu stärken für die wichtigen Arbeiten, die die Diakonie leistet.

In Wienhausen haben Sie eine 75-Prozent-Stelle als Gemeindepastor inne. Wie sieht die diakonische Arbeit innerhalb einer Gemeinde aus?

Da sehe ich das diakonische Hauptaugenmerk in der Unterstützung von Familien und in der Würdigung dessen, was dort geleistet wird. Denn auch wenn wir bei Diakonie häufig zuerst an die kleinen Pflegeautos denken: die meiste diakonische Arbeit an Pflege und Seelsorge und Begleitung und Unterstützung wird in den Familien geleistet.

Was wünschen Sie für die Zukunft der diakonischen Arbeit?

Dass die Diakonie nicht nur als reine Nothilfe verstanden wird, sondern viel weiter reicht. Zum Beispiel ein Verständnis dafür zu befördern, dass auch ein schöner Gottesdienst oder ein anderes kulturelles Angebot innerhalb der Kirche schon an sich diakonisch ist. Die Corona-Krise hat uns schließlich gezeigt, wie sehr wir darunter leiden, wenn die Kultur verstummt oder in ihren Darstellungsformen beschnitten wird. Die Kirche war schon immer Kulturträger – und ihre Angebote sind in der Regel kostenlos. Mensch sein bedeutet ja nicht nur satt und sauber zu sein, sondern sich entfalten zu können – dazu braucht es Austausch und Geselligkeit, Bildungsimpulse und Kunstgenuss, die Erfahrung von kultureller Vielfalt. Weil ich das für so wichtig halte, plane ich noch in diesem Jahr einen Kantatengottesdienst in der Woche der Diakonie im September, in dem die Kantate ein ganz bewusst diakonisches Thema hat. Aber auch die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und Kunstformen möchte ich suchen. Ich bin der festen Überzeugung: Wahrhaft diakonisches Handeln beginnt nicht, weil jemand eindringliche Apelle macht, sondern nur dann, wenn unsere Seele reich und voll ist und dann Lust bekommt, etwas davon weiterzugeben.

Alex Raack
Foto: Merle Specht

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